Wie deutsche Unternehmen die Digitalisierung meistern: Teil 1 Digitalisierung – Interview Marcus Kallies & Matt Laker

Vom Maschinenbau zur Digitalisierung: Deutschlands Identitätskrise

 

Deutschland, das Land der Ingenieure und Tüftler. "Made in Germany" ist seit über einem Jahrhundert ein Gütesiegel für Präzision, Qualität und technische Perfektion. Doch genau diese Stärke könnte sich in der digitalen Ära als größte Schwäche erweisen.
"Es liegt nicht in unserer DNA, digital zu sein", bringt es Marcus Kallies, Digital-Experte und Geschäftsführer, in einem YouTube-Podcast mit @Matt Laker auf den Punkt. "Deutsche waren schon immer Ingenieure. Wir haben unseren Lebensunterhalt damit verdient, Maschinen zu bauen und sie bis zur Perfektion zu optimieren."
Diese Engineering-Mentalität, die Deutschland über 100 Jahre lang wirtschaftlichen Erfolg bescherte, steht heute vor einer fundamentalen Herausforderung: Während die Welt digital wird, perfektionieren wir noch immer das Analoge.

 

Der globale Realitätscheck: Deutschland als digitaler Nachzügler

 

Ein Blick auf die globale Tech-Landschaft zeigt das Dilemma deutlich: Microsoft, Apple, Facebook, TikTok – die dominierenden digitalen Plattformen stammen alle nicht aus Deutschland. SAP bleibt das einzige international erfolgreiche IT-Produkt "Made in Germany". Und selbst SAP entspringt der klassischen deutschen Engineering-Tradition: Software zur Optimierung von Fertigungsprozessen.

Während andere Länder die digitale Revolution anführen, kämpft Deutschland mit einem grundlegenden Problem: Der gewohnte Wettbewerbsvorteil schwindet. "Wir können Dinge nicht mehr so günstig herstellen wie andere Länder", erklärt Kallies. "Selbst die größten deutschen Automarken haben erkannt, dass sie nicht wettbewerbsfähig bleiben können, wenn sie alles in Deutschland produzieren."

 

Die Herausforderung ist zweifach:

 

  1. Preislicher Wettbewerbsnachteil: China und andere Länder produzieren kostengünstiger bei zunehmend vergleichbarer Qualität. Mit über einer Milliarde Menschen haben sie schlicht andere Skaleneffekte.

 

  1. Kultureller Perfektionismus vs. Innovationsgeschwindigkeit: Während Deutschland optimiert und perfektioniert, experimentieren andere Länder, scheitern schnell und starten neu – eine Mentalität, die in der digitalen Welt zum Erfolg führt.

 

Die Tesla-Lektion: Wenn amerikanischer Pragmatismus auf deutsche Bürokratie trifft

 

Ein besonders anschauliches Beispiel für den Kulturunterschied liefert die Geschichte der Tesla Gigafactory in Brandenburg. Elon Musk wählte Deutschland als größten europäischen Markt – und stieß prompt auf die berühmte deutsche Gründlichkeit.

Das Problem:  Die Genehmigung für den Fabrikbau kann in Deutschland drei bis fünf Jahre dauern. Für Musk war die Lösung, einfach mit dem Bau zu starten. Es wurde Wald gerodet, eine Fabrik errichtet und sämtliche  Umweltbedenken ignoriert. Durch geschickte Öffentlichkeitsarbeit setzte er die Regionalregierung unter Druck. Als die ersten Autos vom Band liefen, stand die Regionalregierung vor einem Dilemma: Die nachträgliche Schließung hätte Arbeitsplätze gekostet.

 

Perfektionismus als Innovationsbremse

 

Der Kontrast zur deutschen Mentalität  zeigt sich besonders deutlich in der Risikobereitschaft: "Wenn du nicht zeigen kannst, dass es perfekt funktioniert, darfst du es hier nicht betreiben" sei das vorherrschende Motto, meint Kallies.

Derweil steigen in Phoenix Menschen in selbstfahrende Autos, die noch in der Testphase sind. Rammt eines eine Straßenlaterne, lautet die Reaktion: "Entschuldigung, wir werden die Software aktualisieren." In Deutschland undenkbar.

Diese unterschiedlichen Mentalitäten prägen die Innovationslandschaft: "In den USA geht es immer um 'grow, grow, grow' – was ist das nächste große Ding?", erklärt Kallies. "Bei uns läuft es ganz anders: Wenn wir ein gutes Produkt haben, optimieren wir es bis zur Perfektion und denken nicht disruptiv. Das allerdings ist die Voraussetzung für erfolgreiches digitalisieren!"

 

China holt auf – Deutschland muss reagieren

 

Während Deutschland noch perfektioniert, schließt China die Qualitätslücke. "Sie haben so viel Macht und so viel Geld, um zu investieren", warnt Kallies. Die jüngsten Entwicklungen in Shanghai zeigen: China ist nicht mehr nur die verlängerte Werkbank. Das Land wird zum ernsthaften Konkurrenten um die technologische Führerschaft.  Das hat zur Folge, das Deutschland weder preislich noch in der Innovationsgeschwindigkeit mithalten können wird, sollten wir bei den alten Mustern bleiben.

 

Der Wendepunkt: Von der Industrie- zur Digitalgesellschaft

 

"Wir kommen aus der Industriegesellschaft und gehen in die Digitalgesellschaft über", fasst Kallies die Transformation zusammen. "Wenn du nicht untergehen willst, musst du dich anpassen." Bei all dem gibt es aber auch eine gute Nachricht: Deutsche Stärken sind nicht obsolet geworden. Prozessoptimierung, Qualitätsfokus und systematisches Vorgehen bleiben wertvoll. Sie müssen jedoch mit digitaler Geschwindigkeit kombiniert werden.

"Wenn du etwas nicht per Hand schreibst und per Post verschickst, sondern eine E-Mail schreibst, ist es dasselbe – nur schneller", erklärt Kallies das Prinzip. Deutschland muss lernen, seine bewährten Stärken in die digitale Welt zu übertragen.

 

Fazit: Die digitale Chance ergreifen

 

Deutschland steht vor einer Weichenstellung. Die traditionelle Engineering-DNA allein reicht nicht mehr aus. Aber sie ist auch kein Hindernis – wenn sie richtig kanalisiert wird. Noch sind für viele deutsche Unternehmen dabei zahlreiche Fragen offen:  Wie können wir in unserem Unternehmen den Wandel konkret meistern? Welche Strategien funktionieren in der Praxis? Und welche Rolle spielen externe Experten dabei?

Auf diese Fragen und einem Praxisbeispiel aus Bayern gehen wir im zweiten Teil unserer Serie ein:  "Wie deutsche Unternehmen die Digitalisierung meistern" ein.

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